Der tschechische Philosoph Jan Patočka meinte einmal: „Der Mensch ist ein Wesen, dem sich die Wirklichkeit erschließt.“ Das unterscheidet uns von Tieren: Wir sind uns unserer Situation bewusst. Wenn uns etwas weh tut, bleibt es nicht bei den körperlichen Schmerzen. Angst kommt dazu, und Ärger und sicherlich auch Sorge. Patočka wusste, wovon er sprach: Als Mitglied der Charta 77 starb er nach Polizeiverhören in Prag im März 1977.
Die Wirklichkeit erschließt sich uns immer in verschiedenen Färbungen. Unsere Wertvorstellungen spielen mit hinein, Prägungen, Vorlieben und Geschmack, und unsere Stimmungen. In Bezug auf unseren potentiellen Ehepartner müssen wir uns nun fragen: Nehmen wir die Wirklichkeit auf ähnliche Weise war? Wenn wir einander etwas erzählen, wissen wir dann rasch, was der andere meint? Wenn wir ein ernstes Gespräch führen, müssen wir uns immer alles ewig lange erklären und jeden Satz gleich wieder rechtfertigen? Geht die Diskussion in eine produktive Richtung, oder werde ich immer abgelenkt durch missverstandene Nebensätze? Können wir miteinander über dieselben Dinge lachen?
Auf einer Sommeruniversität in den USA lernte ich Camilo kennen, einen jungen Rechtsanwalt und Uni-Assistenten aus Lateinamerika. Zudem war er Salsatänzer, Partyheld, Mädchenschwarm, Draufgänger. So ein Typ zum Verlieben – frech, selbstbewusst und überall vorne dabei. Nach ein paar hitzigen Wortgefechten verliebten wir uns Hals über Kopf ineinander. Ein unglaublicher Sommer … Mit dem Ausblick auf eine ungewisse Zukunft reiste ich zurück nach Europa. Wir wollten es auf jeden Fall versuchen. Als am 13. September 2001 mein Flug nach New York City wegen der 9/11 Katastrophe gestrichen wurde, buchte ich kurzerhand nach Bogota um. Ich hatte Sehnsucht nach Camilo … und fand mich wieder in einem Schicky-Micky-Eldorado in Lateinamerika. Da passte ich nicht hin. Und je ernster unsere Beziehung wurde, desto weniger verstanden wir uns. Jedes Argument, jeder tiefere Gedanke wurde zuerst einmal missverstanden. Aus einer kleinen Bemerkung konnten nicht enden wollende Dispute entstehen. Nicht etwa aus böser Absicht, keineswegs. Wir waren ja sehr verliebt ineinander! Aber wir dachten und fühlten eben vollkommen anders und maßen ganz unterschiedlichen Dingen in unserem Leben Priorität zu.
Um sich richtig zu entscheiden, muss man sich also fragen: Verstehen wir uns, wenn wir miteinander reden? Sprechen wir von den gleichen Dingen? Wirken Menschen und Situationen ähnlich auf uns?
Wenn wir von einer netten Party aufbrechen und uns austauschen: Fanden wir die gleichen Menschen sympathisch? Würden wir gerne die gleichen Menschen wiedersehen?
Ich habe einen Freund, der stets genau das Gegenteil von mir empfindet. Wenn ich jemanden als glücklich erlebt habe, fragt er mich, warum dieser denn so traurig gewesen war. Wenn ich einen Film abstoßend finde, möchte er ihn unbedingt noch einmal sehen. Unsere Freundschaft geht trotzdem gut, weil wir uns lange kennen, und weil wir uns liebevoll gegenseitig als „ein bisschen skurril“ ansehen. Aber heiraten? Das würde nicht gut gehen!
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